Jalal Hussaini ist Journalist aus Afghanistan und lebt in Hamburg im Exil. Als im August die Taliban Kabul einnahmen, fiel seine Heimat in Trümmer. Sein enger Freund Ahmad schaffe es damals, mit einem der Evakuierungsflüge in die Slowakei zu entkommen. Doch dort ist er jetzt gefangen.
Drei Monate ist es jetzt her und ich habe noch immer keine Worte für das, was da passiert ist. Trümmer…. Vertreibung… Elend…
Aber in diesen drei Monaten haben wir uns fast schon an das gewöhnt, was uns anfangs so unfassbar schrecklich erschien. Es wird so normal und wertlos wie jede andere ferne Nachricht. Die Menschen leben weiter, und die Gefangenen und Verlierer dieses Landes werden einfach vergessen. Wer hätte gedacht, dass diese Generation in ihrem kurzen Leben so viele Regimewechsel erleben würde. Wer hätte gedacht, dass der Albtraum von 1996 zurückkehrt, als die Taliban schon einmal an die Macht kamen. An die fünf Jahre unter ihrer Herrschaft zu denken, erfüllt uns noch heute mit Schrecken. Aber jetzt ist dieser Albtraum Teil unserer Lebensrealität und wir haben keine andere Wahl, als ihn zu akzeptieren.
Das Leben gerettet
Viele konnten fliehen. Ahmed, ein enger Freund von mir und einer der bekannten Künstler des Landes, gehört dazu. Als die Taliban Kabul einnahmen und die Evakuierungsflüge anfingen, gelang es ihm zusammen mit seiner Frau und einer Gruppe von anderen erst in die Ukraine und dann in die Slowakei zu fliehen. Ihm und seinen Begleitern wurde gesagt, dass man sie nach Deutschland oder Kanada bringen würden Die Slowakei ist kein Einwanderungsland, es wäre also sinnlos für sie, dort zu bleiben.
Sie wurden zunächst in ein abgelegenes Lager an der slowakisch-ukrainischen Grenze gebracht, wo sie zwei Wochen in Quarantäne verbringen sollten und während dieser Zeit auch behandelt wurden.
Aus zwei Wochen wurde ein Monat, und aus einem Monat wurden drei. Niemand kümmerte sich um sie. Es ging ihnen wie Afghanistan. Sie waren bald vergessen.
Es sollte jedoch nicht vergessen werden, dass es ein Wunder war, als sie in der Slowakei ankamen – zu einer Zeit, in der Millionen anderer Menschen unter den seltsamen und unglücklichen Bedingungen des Landes immer noch in Afghanistan ums Überleben kämpfen. Aber zu paddeln scheint zu unserem hektischen Leben zu gehören. Sowohl für diejenigen, die geblieben sind, als auch für diejenigen, die fliehen konnten….
Kein Weg über Grenzen
Vor allem in Osteuropa wird es immer schwieriger, die Grenzen zu überwinden. Dass die Luft jetzt kälter wird, hilft auch nicht. In einer Zeit, in der Deutschland über die Hilfe von Künstlern, lokalen Mitarbeitern und Journalisten berichtete, versuchte ich auch, etwas für meinen Freund zu tun. Es war ein weiterer vergeblicher Versuch. So wie die unzähligen E-Mails und Telefonate, die deutsche Künstler und Journalisten an die Regierung richteten, um afghanische Bürger zu retten.
Wir taten, was wir konnten. Wir gingen Wege, die nie ans Ziel führten, und schrieben Briefe, die nie beantwortet wurden. Als ich meine deutschen Freunde um Hilfe bat, um Ahmed und seine Frau nach Deutschland zu holen, machte sich niemand die Mühe, nach einem Weg zu suchen. Sie sagten nur, dass es gut sei, dass sein Leben nicht in Gefahr sei, nach dem Motto: Bleib dort und leb dort weiter, egal wie. Sie redeten, als ob er nicht mehr erwarten dürfte als einfach nur am Leben zu sein. Sobald er irgendwo ankommt und nicht mehr in Gefahr ist, muss das reichen. Mehr ist nicht drin.
Es ist traurig zu wissen, dass wir in einer Blase leben, die jederzeit platzen kann. Diese sterbliche Welt ist seit vielen Jahren eine Blase für diejenigen, die ein sicheres Zuhause suchen.
Bleiben oder Gehen?
Ahmed und seine Frau beschlossen, auf eigene Faust aus dem geschlossenen Lager zu fliehen und hierher zu kommen. Sie fragten sich durch, welche Wege es gibt. Ahmed erfuhr, dass es einige wohl über die Grenze geschafft hatten, aber auch viele beim Versuch festgenommen wurden. „Einige klammerten sich sogar unter Lastwagen oder Züge in der Hoffnung, Westeuropa zu erreichen“, sagte er. Er kam zu dem Schluss, dass es wohl doch am besten sei, im Lager zu bleiben.
Es wäre ohnehin schwer geworden, aus diesem kleinen Gefängnis rauszukommen. Immer, wenn sie das Lager verlassen wollten, kam jemand mit um sie zu begleiten, damit sie nicht fliehen konnten. Auch bei Arztbesuchen. „Mein Bein tat sehr weh und meine Frau hatte Bauchschmerzen. Wir mussten einen Krankenwagen rufen.“ Weil sie noch nicht registriert waren, mussten sie die Kosten für die Behandlung selbst tragen. Für ein paar Pillen waren das einmal 200 Dollar und beim nächsten Mal 100 Dollar. „Ich habe dann aufgehört, zum Arzt zu gehen.“ Er ist wütend, als er das am Telefon erzählt. „Sie haben alle Wege gesperrt und uns gezwungen, hier zu bleiben. Andererseits haben sie uns gesagt, dass sie keine Einwanderer wollen. Wir wissen nicht, was wir tun sollen.“
Dann wurde er ganz ruhig. Seine hilflose und hoffnungslose Stimme wurde fest und er wartete darauf, dass ich einen Weg vorschlug. Aber er wusste nicht, dass es auch ich keine Idee habe, was man machen kann und dass auch für mich alle Türen verschlossen sind.
Nur 11 Einwanderer im Jahr
Ahmed erzählt, dass sich in dem ersten Lager, in das sie kamen, noch etwa 30 weitere Migranten aus verschiedenen Ländern wie Afghanistan, Algerien und Syrien befanden, von denen noch keiner Fingerabdrücke abgegeben hatte. Dann wurden sie in ein geschlossenes Lager gebracht, das wie ein Gefängnis angelegt war. „Da mussten wir unsere Fingerabdrücke abgeben. Sie sagten, man müsse sich hier als Einwanderer registrieren lassen, sonst kommt man für sechs bis neun Monate ins Gefängnis.“ Ahmed sagte, dass die Slowakei laut der Website iom.sk im Jahr 2020 nur 11 Menschen als Einwanderer aufgenommen hat – und seit 1993 insgesamt etwa 59.352 Personen einen Antrag auf Einwanderung in die Slowakei gestellt haben, von denen nur 874 positiv entschieden wurden. Am schlimmsten ist, dass die Slowakei nach Polen und Rumänien die niedrigste Zahl von Einwanderern unter anderen europäischen Ländern hat.
Von der Welt vergessen
„Angesichts dieser harten Bedingungen und Gesetze versuchen viele, das Land trotz Fingerabdruck zu verlassen.“ Ahmed hofft auf einen Ausweg aus diesem Land. Einen Weg, der mit den strengen Schengen-Regeln, selbst wenn möglich, nutzlos erscheint. Sie sind in der Hölle.
Ahmed und seine Frau konnten wie Hunderttausende andere Migranten einen Ort erreichen, an dem sie sicher, aber nicht am Leben sind. Andere sind im Iran, Pakistan, Türkei, Griechenland, Ukraine, Tschechien gestrandet. Vielleicht ist das einzig Gute, dass sie dort ein Dach über dem Kopf haben, während viele andere nur ein kleines Zelt haben – auf den gefährlichen Routen in Europa oder sogar in einem eigentlich sicheren Land wie Griechenland – und ihnen ein kalter Winter bevorsteht. Sie sind Einwanderer, die vor den Toren Europas gefangen sind, und Länder wie Deutschland haben vor dieser bitteren Wahrheit ein Auge zugedrückt. Sie sind vergessen.