Ein Putschversuch? Euer Ernst?

Als wir nach Deutschland kamen, haben wir viel Zeit damit verbracht zu vergleichen: Wieviel perfekter erschien uns Deutschland (auch wenn wir natürlich auch einige Schattenseiten gesehen haben) im Vergleich zu den Ländern, aus denen wir kommen. Alles wird den Menschen geboten: Soziale Sicherungssysteme, Sprachschulen, Weiterbildungszentren. Dazu noch eine freie und lebendige Zivilgesellschaft, Vereine und viele Veranstaltungen, die uns geholfen haben, mit den Schrecken der Flucht und dem Horror, den wir in unseren krisengeschüttelten Ländern zurückgelassen haben, umzugehen. Unsere Herkunftsländer sehen dagegen grimm aus: Krise, Korruption, Krieg und sehr wenig Freiheit zur eigenen Entfaltung. Beherrscht werden sie von korrupten Eliten.

Manche haben es immer als unfair bezeichnet, solche Vergleiche anzustellen, da doch die Ausgangsvoraussetzungen sehr unterschiedlich sind. Andere hörten auf, diese Vergleiche zu ziehen, einfach, weil sie die Vorzüge des Lebens hier genießen und sich nicht länger mit dem belasten wollen, was sie zurückgelassen haben.

Ein Putschversuch, Euer Ernst?

In der vergangenen Woche hat uns eine Meldung besonders beschäftigt: Die Vorbereitungen einer Gruppe von Personen, die den sogenannten „Reichsbürgern“ nahe stehen, die Bundesregierung zu stürzen. In den deutschen und auch in den internationalen und arabischen Medien wurde ausführlich über die Razzia und die Verhaftung einer großen Anzahl von Verdächtigen berichtet. Es hieß, dass die Gruppe geplant habe, den Bundestag zu stürmen, die Regierung abzusetzen und sie hatte bereits ein Schattenkabinett aufgestellt. Beunruhigend sind die Verbindungen in die deutsche Armee und dass sich auch ausgebildete Soldaten an der Vorbereitung beteiligt haben sollen.

Diese Meldung war für mich der Punkt, an dem das ewige Vergleichen zwischen meinem Herkunftsland und Deutschland eine neue Dynamik angenommen hat. Kommen mir die Ereignisse doch nur allzu bekannt vor. Mit Putschversuchen kennen wir uns aus. In der Arabischen Welt und in der ganzen sogenannten Dritten Welt (wobei ich den Begriff ablehne) sind wir an solche Meldungen gewohnt. Unsere Geschichten sind gespickt mit Putschen und Putschversuchen und man braucht noch nicht einmal weit zurückzublättern in den Geschichtsbüchern: Jemen, Ägypten und zuletzt Tunesien.

 

Energiekrise und die Angst vor Stromausfall

Wenn die Gedanken einmal anfangen, in einer Richtung zu laufen, finden sie bald weitere Beute: So gibt es auch weitere augenfällige Ähnlichkeiten zwischen der Situation in Deutschland und in unseren Ländern. Was russische Expansionspolitik bedeutet, haben wir in Syrien schon seit mehr als zehn Jahren erlebt, nun nehmen auch in Europa immer mehr Menschen wahr, was die Auswirkungen sind. In Deutschland zeigt sich dies ganz besonders in der Energiekrise. Seit Herbst macht sich Angst breit: Angst vor Stromausfall und Gasmangel. Wie kommen wir durch den Winter? Klar, im Gegensatz zu Syrien, machen sich die Menschen in Deutschland Sorgen auf hohem Niveau. Sie können sicher sein, dass die Regierung alles tut, um die Folgen der Krise abzupuffern. Doch Angst ist Angst und wir Syrer wissen, was es bedeutet, wenn es zu wenig Strom und Gas gibt, um durch den Winter zu kommen.

Fußballmannschaften, die schon in der Vorrunde herausfliegen

Wo wir schon dabei sind: Wir in der arabischen Welt kennen uns auch damit aus, wie es sich anfühlt, wenn die eigene Fußballmannschaft schon in der WM-Vorrunde herausfliegt. Ich meine, nicht nur einmal, sondern bei jeder WM. Klar, Ausnahmen (Danke, Marokko!) bestätigen die Regel.

Korrupte Strukturen in Medien und Politik

Leider zeigen sich die Ähnlichkeiten in letzter Zeit auch in der engen Verflechtung von Macht und Geld in Medien und Politik. Stichwort RBB-Skandal. Ähnlich nachdenklich stimmen auch Nachrichten wie die über den abgesetzten Bürgermeister von Berlin-Mitte, der kürzlich über eine Affäre gestolpert ist, bei der er Menschen aus seinem persönlichen Umfeld begünstigt hat. Dazu: Maskenaffäre, CORONA-Hilfe-Betrug und so weiter. Das alles erinnert doch nur allzu stark an das nimmersatte System der Korruption, das die Verwaltung und auch das Politische System in unseren Heimatländern bis auf die Knochen abknabbert.

Heißer Sommer, knallende Sonne

Und dann ist da auch noch das Wetter: Bislang war zumindest die strahlende Sonne und der wolkenlose Himmel im Sommer ein klarer Pluspunkt für unsere Heimatländer. Etwas, nachdem wir uns gesehnt haben, wenn wir durch den grauen Berliner Nieselregen laufen. Nach den letzten Rekordsommern in Deutschland verblasst auch dieses Argument.

Fazit: Es ändert nichts. Dass wir nun auch hier in Deutschland einen kleinen Abklatsch von den Abgründen erleben, die unsere Länder und darunter das grausame System in Syrien immer durchmachen, macht es nicht attraktiver, dorthin zurückzukehren. Im Gegenteil.

In der nächsten Woche beschäftige ich mich an dieser Stelle mit der Frage: „Warum wir trotzdem Heimweh haben“.

Dieser Text ist Teil der Serie „Sonntagsworte“. Darin reflektiere ich über die Nachrichtenlage hier in Deutschland und in der Welt. ES sind meine persönlichen Gedanken und sie spiegeln nicht unbedingt die Meinung der Amal-Redaktion.