Sie waren an der Planung der großen Demonstration in Berlin am 27. Februar beteiligt. Was war der Plan und wann wurde er gemacht?
Im Januar sprachen ein Freund und ich darüber, Berlin und Kiew durch eine lange Menschenkette zu verbinden – so wie 1989 im Baltikum. Damals schlossen sich etwa zwei Millionen Menschen zusammen, um in einer 650 km langen Kette von Tallinn über Riga nach Vilnius für die Unabhängigkeit der baltischen Staaten von der Sowjetunion zu demonstrieren. Für die viel längere Strecke Berlin-Kiew wären deutlich mehr Menschen nötig gewesen. Also beschlossen wir, dass dies eine schöne, aber unrealistische Idee sei. Ich schlug daraufhin anderen Aktivist:innen vor, eine Menschenkette in Berlin zu machen: Zwischen den Botschaften Russlands, der Vereinigten Staaten, der Ukraine, Großbritanniens, Frankreichs und des deutschen Kanzleramtes. Diese Kette war als verzweifelte Aufforderung an Russland gedacht, sich an diplomatische Mittel zu halten. Das war Anfang Februar. Kurz darauf zerschlug sich diese Hoffnung.
Ansgar Gilster studierte Geschichte, Philosophie und „Genocide Studies“ in Berlin, London, Siena und Warschau. 2006–2012 arbeitete er in der Redaktion der Zeitschrift OSTEUROPA. Seit Anfang 2016 arbeitet Ansgar Gilster im Bereich Migration und Menschenrechte für die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD). Er ist Mitgründer von United4Rescue, dem Bündnis für die zivile Seenotrettung im Mittelmeer, im Vorstand von Europe Calling, wie auch im Vorstand von Equal Rights Beyond Borders, einer Rechtshilfeorgansation, die Kinder- und Menschenrechte von Geflüchteten durchsetzt, Familien zusammenführt und Schutzsuchende in den EU-Lagern auf den ägäischen Inseln juristisch unterstützt.
Wie hat der 24. Februar Ihre Pläne verändert?
Als der Krieg begann, war uns sofort klar, dass der ursprüngliche Plan hinfällig war. Die Demonstration musste nun ein Zeichen der Solidarität für die Ukraine und ein Protest gegen den russischen Angriffskrieg sein. Zweitens wurde uns klar, dass die Veranstaltung viel größer werden würde, als wir es geplant hatten. Wir mussten wir sie skalieren und den Ablauf anpassen.
Warum wurde keine ukrainischen Organisationen eingeladen, die Demonstration zu organisieren?
Gleich zu Beginn, Anfang Februar, habe ich mich an ukrainische Aktivist:innen gewandt und gefragt, ob sie an einem großen Zeichen der Solidarität und an einer Zusammenarbeit mit anderen Organisationen interessiert wären. Leider waren sie nicht überzeugt – vor allem nicht an der ursprünglichen Idee einer Menschenkette.
Verstehen Sie, warum sich die ukrainischen Aktivisten nicht an der Kette zwischen der ukrainischen und der russischen Botschaft beteiligen wollten?
Ich verstehe und respektiere diese Entscheidung. Aus heutiger Sicht ist klar, dass die Idee der Menschenkette falsch war. Aber ich glaube auch, dass es vor Kriegsausbruch die einzige Möglichkeit gewesen wäre, eine große Menschenmenge in Berlin zu mobilisieren. Während wir Deutschen noch auf Frieden hofften, war den Ukrainern bereits klar, dass die Zeit für Hoffnung vorbei war. Gemeinsame Aktionen sind immer eine Herausforderung – und unter diesen sehr schwierigen Umständen ist es leider nicht gelungen. Dennoch glaube ich weiterhin fest an „radikale Zusammenarbeit“, d.h. daran, sehr vielfältige Organisationen und Gruppen zusammenzubringen. Es liegt eine große politische Kraft darin, trotz all unserer Unterschiede zu kooperieren.
Hätten Sie die Demonstration auch ohne ukrainische Redner auf der Bühne durchgeführt?
Das stand immer außer Frage. Deshalb bin ich sehr froh und dankbar, dass Oleksandra Bienert und Iryna Bondas ihre Reden gehalten haben. Als ich sie um ihre Teilnahme gebeten hatte, zögerten beide zunächst und sagten ab. Erst nach längeren Gesprächen änderten sie ihre Meinung, und ihre Botschaft wurde von den mehreren Hunderttausend Menschen bei der Demonstration gehört.
Soweit ich weiß, waren die pazifistischen Organisationen dagegen, Redner von „Vitsche“ auf die Bühne zu lassen, und wollten sogar ukrainische Symbole verbieten.
Vitsche hatte erst sehr kurz vor der Demonstration um Teilnahme gebeten, aus praktischen Gründen war es einfach zu spät. Die Rednerliste war bereits geschlossen, der Zeitplan war eng gesteckt. Es war eine unglückliche, aber keine politische Entscheidung. Wir hatten bereits drei ukrainische Redner:innen – und Sergej Medwedew, der im Namen der russischen Zivilgesellschaft sprach, die unter dem Regime leidet und den Krieg entschieden ablehnt.
Bezüglich der Flaggen gab es in der Tat Stimmen aus der deutschen Friedensbewegung, die die ukrainische Flagge missbilligten und Nationalflaggen generell bei der Demonstration verbieten wollten – da sie Flaggen als nationalistische Symbole sehen. Natürlich wäre es falsch und äußerst paternalistisch gewesen, den Ukrainern ihre Flagge zu verbieten – ganz zu schweigen davon, dass ein solches Verbot unmöglich zu kontrollieren gewesen wäre. Und wie zu erwarten war, hatte fast alle Demonstranten eine Fahne dabei oder trugen die ukrainischen Farben.
Glauben Sie, dass die an diesem Tag anwesenden Friedensorganisationen einen starken Einfluss auf den allgemeinen Diskurs in Deutschland hatten, z.B. die langsame Lieferung von schweren Waffen oder dass einige Leute von Frieden um jeden Preis sprechen?
Ganz und gar nicht, die pazifistischen Organisationen erhielten an diesem Tag keine besondere Aufmerksamkeit und prägten auch nicht die Botschaft des Protestes am 27. Februar. Im Gegenteil, wir hörten eine einzigartige Mischung von sehr starken Redebeiträgen – zum Leid der ukrainischen Bevölkerung, zu Sanktionen, zu Flüchtlingen, zum Waffenbedarf der Ukraine, zur deutschen Abhängigkeit von russischem Öl und Gas. Und nicht zu vergessen, die beeindruckende Rede von Iryna Bondas über ihre Verachtung für den deutschen Pazifismus und darüber, dass die Ukraine alles braucht, nur nicht warme Worte und falsches Mitleid. Ich habe im Nachhinein gehört, dass viele pazifistische Organisationen durch ihre Rede sehr gekränkt waren. Heute können wir alle sehen, wie wahr ihre Worte waren. Ich fand es wichtig und schön, dass bei dem Protest so viele verschiedene Stimmen zu hören waren. Debatte ist der Kern der Demokratie, dazu gehört auch die Auseinandersetzung mit anderen Meinungen. Dass einige Deutsche mit der Unterstützung für die Ukraine zurückhaltend sind, liegt nicht an der Bedeutung der Friedensbewegung heute, sondern an der Geschichte der Friedensbedeutung und der Geschichte unseres Landes.
Wie meinen Sie das?
Deutschland hat den Zweiten Weltkrieg begonnen, die Deutschen haben den Holocaust begangen, den Massenmord an den europäischen Juden. Die Erinnerung daran hat das Land geprägt – und tut es noch heute. Besonders Deutsche, die nach dem Krieg in Westdeutschland aufgewachsen sind, mussten sich mit den Verbrechen und Gräueltaten ihrer Eltern auseinandersetzen. „Nie wieder Krieg – von deutschem Boden aus! Nie wieder Auschwitz!“ waren die beiden zentralen Lehren für die Nation in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Das führte zu dem Irrglauben, dass wenn nur wir Deutschen uns nicht am Krieg beteiligen würden, gäbe es überhaupt keinen Krieg mehr.
Diese kontaminierte Vergangenheit und das schwierige Erbe helfen, den deutschen Pazifismus zu verstehen. Das ist auch der Grund, warum viele Deutsche ihrer Nationalflagge nicht so positiv gegenüberstehen wie die Ukrainer der ukrainischen Flagge.
Wann genau ist es den Friedensorganisationen gelungen, eine so breite Unterstützung zu gewinnen?
Der Höhepunkt der so genannten Friedensbewegung in Westdeutschland war in den frühen achtziger Jahren. Etwa 300.000 Menschen protestierten 1981 in Bonn – und in den Folgejahren – gegen das atomare Wettrüsten zwischen der NATO und dem Warschauer Pakt. Die Friedensbewegung fürchtete den Dritten Weltkrieg und sah vor allem in den Vereinigten Staaten eine globale Gefahr – nachdem die USA den Vietnamkrieg begonnen, Diktaturen in Lateinamerika unterstützt und unter Präsident Reagan die Strategic Defense Initiative initiiert hatten, ein Raketenabwehrsystem, das die Vereinigten Staaten vor Angriffen mit ballistischen Raketen schützen sollte. Der sowjetische Krieg in Afghanistan wurde im Vergleich dazu meist übergangen. Das erklärt, warum einige Deutsche aus dieser Generation immer noch glauben, die Vereinigten Staaten oder die NATO würden Putin provozieren. Während viele Deutsche in den letzten Monaten dazugelernt haben, verstehen einige immer noch nicht, was vor sich geht. Sie wenden ihre Weltsicht aus vergangenen Jahrzehnten auf die heutige Realität an und spielen die russischen Gräueltaten herunter oder fordern sogar die Aufgabe der Ukraine, weil sie glauben, dass es unter einer Besatzung Frieden und Freiheit geben würde. Das ist angesichts der Realität in Russland offensichtlich grotesk.
Sind die meisten Deutschen mit der Ukraine solidarisch?
Solidarität ist ein sehr weiter Begriff, daher sollten wir genauer hinschauen. Was die humanitäre Hilfe und die Unterstützung von Flüchtlingen angeht, ist die deutsche Gesellschaft zweifellos sehr solidarisch mit der Ukraine. Außerdem sind mehr als 70 % der Deutschen der Meinung, dass die Ukraine allein den Zeitpunkt und die Bedingungen für einen Friedensvertrag bestimmen sollte. Was die Lieferung von Waffen angeht, sind die Meinungen geteilter. Meinungsumfragen zeigen, dass etwa drei von fünf Deutschen die Lieferung von schweren Waffen an die Ukraine unterstützen. Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine Frage der Solidarität, sondern eher um die allgemeine Überzeugung, dass Waffen schlecht sind oder sogar den Krieg anheizen könnten. Und etwa 50 % der Deutschen sind offenbar der Meinung, dass Deutschland auch bei steigenden Energiepreisen weiterhin wirtschaftliche und militärische Hilfe für die Ukraine leisten sollte. Das bedeutet im Umkehrschluss: Die Hälfte der Bevölkerung würde weniger Solidarität, zum Beispiel die Aussetzung von Sanktionen, in Betracht ziehen, wenn Deutschland dafür Vorteile wie russisches Gas erhält.
Dennoch hat die deutsche Gesellschaft insgesamt eine sehr klare Haltung eingenommen – trotz derjenigen, die nur den Frieden für sich wollen und erklären, warum es für die Ukraine besser wäre, den Widerstand aufzugeben. Ich bin überzeugt, dass die deutsche Unterstützung in den kommenden Monaten bestehen bleiben wird, ungeachtet der steigenden Energiepreise.
Wie wird dieser Krieg Ihrer Meinung nach die deutsche Gesellschaft verändern?
Der Krieg hat das weit verbreitete Gefühl erschüttert, dass Deutschland eine gemütliche Blase ist, in der Sicherheit und Wohlstand garantiert sind. Durch den Krieg, aber auch durch die Pandemie und die zunehmende Klimakatastrophe haben viele Menschen begriffen, dass kaum etwas auf der Welt selbstverständlich ist. Das Gefühl stellt sich ein: „Die Einschläge kommen näher.“ Liebgewonnene politische Narrative zerschellen an der Realität. Fast alles muss nun neu überdacht werden: Das Verhältnis Deutschlands zur Welt und zur Europäischen Union. Unsere Haltung gegenüber der Globalisierung, der Umwelt, den Menschenrechten und zur Gewalt. Werden wir uns für Autarkie oder eine Neuordnung der internationalen Beziehungen entscheiden? Werden bestimmte Einsichten sich wieder einstellen – wie die Bereitschaft, für Veränderungen auch Anstrengungen auf sich zu nehmen, oder die Tatsache, dass Wohlstand und Sicherheit von bestimmten Voraussetzungen abhängen? Diese und viele andere Fragen verlangen nach Antworten.
Die größte Befürchtung der ukrainischen Gemeinschaft ist, dass Deutschland wieder Geschäfte mit Russland machen wird. Es gibt bereits Politiker, die die Eröffnung von Nord Stream 2 fordern!
Ich sehe darin kein wirkliches Risiko. Deutschland kappt – wie alle westlichen Länder – seine zahlreichen Verbindungen zu Russland. Die Sanktionen zeigen Wirkung, Unternehmen ziehen sich aus Russland zurück, die deutsche Energieversorgung wird nachhaltig verändert. Ein Zurück zu den früheren Verhältnissen wird es nicht geben. Wer das Gegenteil fordert, ist nicht ernst zu nehmen. Solche Politiker sind wie Regenmacher, denn sie versprechen den Menschen etwas, was sie nicht beeinflussen können. Deutschland kann die Pipeline nicht einfach öffnen. Die Öffnung wäre mit einem hohen politischen Preis verbunden, der von Putin diktiert wird. Das macht sie inakzeptabel. Und da solche Politiker diesen Haken kennen, erwähnen sie ihn nicht.