Privat

Als libyscher Schriftsteller in Deutschland

Ein Text von Mohamed Al-Asfar, libyscher Romanautor in Bonn

Ende Oktober 2025 werde ich genau zehn Jahre in Bonn gelebt haben. Ich weiß nicht, wie die Zeit so schnell verging. Kein Tag ist mir bewusst geblieben. Das Leben hier läuft in einem rasenden Rhythmus. Du wachst mit Papier auf und schläfst mit Papier ein.

Täglich kommen Briefe in den Briefkasten, und du musst richtig mit ihnen umgehen – etwas, das ich gar nicht kann, weil ich die deutsche Sprache nicht beherrsche. Schon ein falsch gesetztes Kreuz in einem Formular kann dich teuer zu stehen kommen. Auf KI-Übersetzung allein ist kein Verlass – sie ist alles andere als genau.

Ich weiß nicht, was ich in diesem gelben Jahrzehnt – benannt nach der Farbe, die meine Haut in dieser Zeit angenommen hat – eigentlich gemacht habe. (Auch der Nachname des Autors „Al-Asfar“ bedeutet auf Deutsch „Gelb“.) Ich habe die Sprache nicht gelernt. Aus jedem Kurs, den ich begonnen habe, wurde ich wegen meiner starken Schwerhörigkeit bald hinausgeworfen. Ich erkenne Wörter und ihre Bedeutungen fast nur mit den Augen. Ich weiß, welches Wort mir nützt – und welches mir Unheil bringt.

Jeden Morgen um Punkt zehn kommt das gelbe Postfahrrad. Der Postbote – oder die Postbotin – steckt die Briefe in die Kästen. Ich warte, bis das Rad einige Meter weitergerollt ist, dann eile ich mit meinem kleinen Schlüssel hinunter. Bevor ich den Kasten öffne, sage ich: Ich nehme Zuflucht zu Gott vor dem verfluchten Satan. Hoffentlich ist der Kasten leer, oh Herr.
Ich will keine Post – weder gute noch schlechte.

Früher, in Bengasi, als ich jung war, habe ich den Briefkasten geliebt. Er brachte mir nur Briefe voller Freundschaft und Liebe. Ich war ein begeisterter Briefschreiber, korrespondierte mit Menschen aus dem ganzen Maghreb, tauschte Meinungen und schöne Worte. Aber der deutsche Briefkasten macht mich nur glücklich, wenn er leer ist.


Der Briefkasten des Exils strapaziert meine Nerven – der Briefkasten der Heimat beruhigt sie. Ich will nicht den gelben „Herrn“, ich will den gelben „Liebling“, den es nicht mehr gibt.

In diesen zehn Jahren habe ich etwa zehn Bücher veröffentlicht. Sie haben mir seelisch gutgetan, weil sie aus meinem Herzen kamen. Finanziell aber haben sie mir nichts eingebracht – abgesehen von ein wenig Unterstützung einiger weniger Freunde, die meine Arbeit persönlich schätzen. Ich wollte mit Übersetzungen ein breiteres Publikum erreichen, also suchte ich nach Übersetzern mit Deutsch als Muttersprache. Doch sie alle arbeiten für Institutionen, die Honorare verlangen, die ich nie aufbringen kann. Und selbst wenn ich das Geld hätte – ein Übersetzer muss einen Text lieben, sonst übersetzt er ihn ohne Seele, wie eine Verwaltungsakte.

Ich schrieb an mehrere deutsche Verlage – ohne Erfolg. Manche antworteten sogar unverschämt, mit Sätzen wie: Wir hoffen, dass Sie auf unsere Nachricht nicht antworten. Natürlich antworte ich nicht. Ich lösche ihre E-Mails aus dem Speicher – mit dem stillen Zusatz: Verflucht seid ihr – in der Sprache der Straße.

Um Übersetzer zu finden, besuche ich jedes Jahr als Journalist die Frankfurter Buchmesse. Ich schreibe auch über die Messe, aber vor allem akkreditiere ich mich, um gratis hineinzugehen, an Konferenzen teilzunehmen, die nur für Journalisten sind – und um Fotos von mir mit dem Ausweis um den Hals zu posten, damit meine Freunde auf Facebook sie sehen und mir Glück wünschen. Ich liebe alle meine Freunde, auch wenn ich mit ihnen in vielem nicht übereinstimme. Ich opfere jede Meinung – aber keinen Freund.

Seit ich in Deutschland bin, habe ich aufgehört, für Zeitungen zu schreiben. Früher schrieb ich für mehrere libysche Zeitungen und Magazine über das kulturelle Leben in Libyen. Nach meiner Ankunft versuchte ich noch, über Freunde an Informationen und Fotos zu kommen, aber das klappte nur zweimal. Dann hörte ich auf. Man kann nicht aus der Ferne über Kultur schreiben – man muss körperlich und seelisch anwesend sein, damit der Text überzeugt. Außerdem brauche ich hier keine Honorare mehr. Es gibt staatliche Hilfen, die ein bescheidenes Leben ermöglichen, solange man keinen regulären Job hat.


Natürlich habe ich nie schwarz gearbeitet. Ich bin Schriftsteller – ich sollte Vorbild sein, nicht gegen das Gesetz verstoßen und mir die Akte beschmutzen.

Ich lese, schreibe und streife umher – sonst nichts. Jeden Tag gehe ich ins Café, immer an denselben Tisch. Zehn Jahre habe ich so gelebt – zurückgezogen, für mich.


Wenn ein Libyer, Araber oder Kurde auf mich zukommt, zeige ich ihm mein Hörgerät – das ist mein Signal, dass ich lieber allein bleiben möchte.


Mit den Nachbarn rede ich kaum. Unser Kontakt besteht aus: Salam alaikum. Hallo. Guten Tag. Ich rede Arabisch mit ihnen – immer dieselben paar Sätze. Ich habe im Alltag nie Deutsch gesprochen.
Ich integriere mich auf meine Weise: Ich rede Arabisch, gestikuliere, zeige, was ich meine – und der Deutsche versteht mich. Erst dann sage ich das deutsche Wort. Er weiß nicht, ob er lachen oder lächeln soll, aber er nickt erstaunt mit seinem großen Kopf.

Zehn Jahre – ich weiß nicht, ob sie schön oder langweilig waren. Ich habe sie ohne Familie, ohne gesellschaftliche Anlässe, ohne enge Freunde verbracht. Die meisten sind fort – gefallen im Krieg, im Gefängnis gestorben, vom Hochwasser oder einer Krankheit geholt, oder einfach alt geworden. Nur Erinnerungen sind mir geblieben.

Wir verabschieden uns nie, wenn wir uns treffen – wir wollen diesen Moment nicht im Gedächtnis haben. Wir trennen uns, aber wir bleiben doch verbunden.
Virtuelle Kommunikation – Stimme, Bild, Schreiben – genügt nicht. Sie ist blass, leblos, ohne Geruch, ohne Glanz in den Augen, ohne den Schlag des Herzens, ohne den warmen Händedruck oder die tröstende Hand auf der Schulter, ohne die Umarmung, die manchmal Tränen mit sich bringt.

Jedes Mal, wenn ein Freund die Welt verlässt, spüre ich, dass meine Zeit näher rückt. Ich trauere nicht und freue mich auch nicht. Ich öffne das Fenster, selbst wenn es draußen kalt ist, lächle dem Himmel zu und sage: Es gibt keinen Unterschied zwischen deiner Welt und unserer. Kein Unterschied, ob ich hier oder dort bin – in beiden Fällen bin ich derselbe.

Manchmal reise ich nach Tunesien oder Ägypten, um dort ein neues Buch zu signieren. Auf den Buchmessen von Kairo oder Tunis verbringe ich glückliche Tage. Ich treffe Freunde und Freundinnen aus beiden Ländern, auch libysche Bekannte. Wir genießen die Zeit – dann gehe ich in mein Hotel und sie in ihres.

In solchen Momenten fühle ich, dass sie keine „Freunde“ im eigentlichen Sinn sind – denn wir alle sind fern der Heimat. In der Heimat geht man nach dem Treffen nicht einfach nach Hause. Man übernachtet beim Freund, oder Freunde übernachten bei einem selbst.

In jedem Haus gibt es ein Gästezimmer, das immer offensteht. Freundschaft im Exil – das liegt mir nicht. Ich fühle sie nur in der Heimat.

Wenn die Messe vorbei ist, fahre ich zum Flughafen – und dort erlebe ich den schlimmsten Schmerz: Wenn ich auf der Anzeigetafel die Flüge nach Bengasi, Tripolis und Misrata sehe. Und der Schmerz wächst, wenn ich die Schlangen libyscher Reisender sehe, die vor den Schaltern anstehen, um ihre Bordkarten zu bekommen. Dann ziehe ich mich zurück. Es ist furchtbar, wenn ein Mensch aus seinem Land kommt – nur um wieder hinauszugehen.

Ich gebe der Angestellten am deutschen Schalter meinen Pass, meine Aufenthaltserlaubnis, mein Ticket – und sie gibt mir die Bordkarte nach Köln/Bonn oder Düsseldorf oder Frankfurt. Ich nehme sie entgegen, mit Tränen in den Augen.

Zehn Jahre in Bonn. Nach den neuen Gesetzen dürfte ich die deutsche Staatsangehörigkeit beantragen. Aber ich frage mich: Was soll ein Mann in meinem Alter mit einem fremden Pass anfangen?
Wird ein deutscher Pass meine Probleme lösen? Ich weiß genau, dass ich auf Flughäfen trotzdem nicht respektiert werde. Der Beamte wird sagen: Deine Papiere sind deutsch, aber deine Gene, dein Fleisch und dein Blut sind arabisch.


Ich werde nicht schnell durch die Kontrolle gehen. Er wird prüfen, ob der Pass echt ist, und mich warten lassen, während die Weißen, Blonden und Rothaarigen im Handumdrehen durchgewinkt werden – mit einem dankbaren Lächeln des Beamten.

Darum reise ich lieber mit meinem libyschen Pass, so schwierig es auch ist. Dann kann ich dem verdammten Beamten sagen: Ich bin Libyer, nicht ein Eingebürgerter, der sich Vorteile erkauft hat. Er wird mich nicht beleidigen – er wird einfach das Verfahren nach Vorschrift durchführen.

Ich bin nie Opfer von Rassismus geworden – weder auf der Straße noch im Bus noch im Zug.
Aber die Meinungsfreiheit – das bleibt mein Problem. Es gibt Grenzen, die du nicht überschreiten darfst. Eine rote Linie, die mit dem Thema „Antisemitismus“ zu tun hat: Hüte dich davor.
Der Antisemitismus sitzt über dir, tötet dich, vergewaltigt dich, raubt dich aus, foltert dich – und du musst ihm danken. Du darfst ihn nicht tadeln, nicht bekämpfen, nicht zürnen, nicht verfluchen. Du musst dich an das Wort Christi halten: Wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, halte ihm auch die linke hin.

Als Schriftsteller von Geschichten und Romanen habe ich mich entschieden, die Politik zu meiden. Mein Ziel ist es, einige meiner Bücher übersetzen zu lassen, damit ein neues Publikum sie liest. Der Politiker sucht Macht, um zuerst sein eigenes Leben und dann das seines Volkes zu verändern. Mein Weg ist die Tinte – seiner ist das Blut. Also gibt es keine Begegnung.

Und nun? Ich habe meine Ziele nicht erreicht.
Ich konnte dieses Jahr auf der Frankfurter Buchmesse keine Übersetzung vereinbaren. Ich will, dass es auf würdige Weise geschieht – ich will keine Übersetzung erbetteln.
Wenn kein einziges Buch übersetzt wird, werde ich mir keine Vorwürfe machen. Ich tue das, damit meine Bücher mir nicht böse sind. Ich sehe sie als meine Kinder – ich will ihnen gerecht werden.

Warum sollen sie ihr Leben lang im Gefängnis der arabischen Sprache bleiben?
Ich werde Geld verlieren, vielleicht um ihretwillen betteln – das stört mich nicht.
Aber nehmen wir an, ein Buch wird ins Deutsche übersetzt – wird es Erfolg haben? Wird es verfilmt werden? Wird es sich verkaufen? Ich weiß es nicht. Alles hängt vom Glück ab.
Oh du verfluchtes Glück – lächle mir doch einmal zu!

Und tatsächlich – es lächelte ein wenig.
Eines Tages rief mich ein Leser an. Er sagte: Als ich in Tunesien war, las ich deinen Roman über Musik, Beethoven, den Krieg und die Flöte. Ich war begeistert, kaufte zwei Exemplare. Ich habe Kontakt zu einer deutschen Stiftung, die sich mit Kriegsopfern und Gedenkstätten für die Opfer des zweiten Weltkriegs befasst. Ich werde ihnen dein Buch zeigen – sie werden sicher an einer Übersetzung interessiert sein.

Und tatsächlich lief alles gut. Ich bekam eine positive Antwort der Stiftung. Wenn der Roman übersetzt und erfolgreich wird, werden die Verlage auf meine anderen Werke aufmerksam werden – meine Geschichten, meine Romane. Dann werden meine Bücher mich lieben, sie werden mir danken.
Wenn dich ein Buch, das du geschaffen hast, dankt – das ist besser, als wenn es ein Mensch tut, den du nicht geschaffen hast.
Dann werde ich reich sein – Gott sei Dank.

Das Wichtigste ist jetzt, dass das erste Buch übersetzt wird. Danach wird sich das Seil weiter abrollen – wie Adnan Khashoggi sagte: Wichtig ist, die erste Million zu machen. Danach folgen die anderen.
Doch die Millionen an Geld werden mich an die Millionen Menschen erinnern, denen das Glück nie zulächelte – obwohl sie es Tag und Nacht kitzelten.

Ein Text von Mohamed Al-Asfar, libyscher Schriftsteller in Bonn. Hier geht es zum Artikel auf Arabisch

Amal, Berlin!
Datenschutz-Übersicht

Diese Website verwendet Cookies, damit wir Ihnen die bestmögliche Funktionalität bieten können. Cookie-Informationen werden in Ihrem Browser gespeichert und dienen dazu, Sie zu bei Rückkehr auf unsere Website zu erkennen. Dies hilft uns zu verstehen, welche Bereiche der Website am interessantesten und nützlichsten sind.

Sie können Ihre Cookie-Einstellungen hier individuell wählen.