Nach Angaben des Büros des ukrainischen Menschenrechtsbeauftragten wurden fast 25.000 Zivilisten von Russland gefangen genommen. Viele von ihnen werden heimlich in russischen Gefängnissen festgehalten und gefoltert. In Berlin fand eine von #StimmeDerGefangenenUkrainer organisierte Diskussion über die Kampagne zur Rückführung von illegal entführten und verhafteten Menschen statt. Zivilgesellschaftliche Aktivisten, Journalisten und Kommunikatoren suchten nach Möglichkeiten, den Gefangenen zu helfen.
Es gibt keinen Mechanismus für die Befreiung von Zivilisten
Bürgerrechtler können eigentlich die genaue Zahl von Zivilisten, die in die Zange des russischen Strafvollzugs genommen wurden, nicht nennen. Viele von Gefangenen wurden und werden immer noch in illegalen Folterkammern festgehalten.
Die Menschen wurden ohne jeden Grund und ohne Papiere festgenommen – sie wurden einfach aus ihren Häusern entführt, auf der Straße angehalten oder aus Bussen und Autos herausgeschleudert. In den meisten Fällen willkürlich und nicht gerechtfertigt. Opfern sind ganz gewöhnliche Bürger geworden, nicht einmal zivilgesellschaftliche Aktivisten oder Behördenmitarbeiter. Lehrer, Ärzte, Werk- und Landarbeiter. Am meisten gefährdet sind Angehörige von Militärpersonen.
Rechtswidrige Festnahmen in den besetzten Gebieten gibt es fast jeden Tag. Manchmal ist der einzige Grund dafür ein ukrainischer Pass, die ukrainische Sprache – oder einfach, weil man zur falschen Zeit am falschen Ort war. Angehörige und Freunde bekommen überhaupt keine Nachrichten über den Aufenthaltsort von Gefangenen.
Laut Aussagen der UN-Sonderberichterstatterin Alice Jill Edwards werden Zivilisten in russischer Gefangenschaft gemartert: sie müssen Stromstöße während der Verhöre über sich ergehen lassen, sie werden geschlagen und vergewaltigt, Scheinhinrichtungen sind auch nicht selten. Viele der Gefangenen brauchen eine medizinische Hilfe, sind krank und haben keinen Zugang zu den lebenswichtigen Medikamenten.
Zu Beginn des Treffens berichtete Aktivistin Christa-Maria Lebe deutschen Journalisten, dass es derzeit keine rechtlichen Mechanismen für die Rückführung von gefangenen Zivilisten gibt. Aus diesem Grund unterstützte die gesellschaftliche Organisation Vitsche eine Kampagne, die darauf abzielt, Geschichten von durch Russland entführten Zivilisten zu verbreiten. In sozialen Netzwerken rief Viche Deutsche auf, Anträge an die russische Botschaft privat zu schreiben, um sich über das Schicksal einzelner Personen zu erkundigen. Dazu wurden spezielle Postkarten mit den Porträts von Opfern zur Verfügung gestellt.
Medieninitiative für Menschenrechte bittet um Unterstützung
Anastasija Pantelejewa, Leiterin der Dokumentationsabteilung der Medieninitiative für Menschenrechte, erzählte über eine speziell erstellte Karte mit den Orten, an denen Ukrainer festgehalten werden. Über diese Orte berichten oft ausschließlich Zeugen eines Verbrechens oder Personen, denen die Flucht aus der Gefangenschaft gelungen ist. Es wurde auch ein spezielles System zur Dokumentation von Ermittlungen I-DOC entwickelt, das eine Einleitung eines vollwertigen Strafverfahrens in Bezug auf Menschenrechtsverletzungen ermöglicht. Bislang wurden insgesamt 112 Dokumente gesammelt, darunter auch gelieferte Beweise für die Entführung von Zivilisten durch das russische Militär während der Besetzung der Gebiete Kyjiw, Tschernihiw und Sumy.
Pantelewa bestätigte, dass die russische Seite über solche Festnahmen kaum glaubwürdig berichtet und die Menschen werden in entsetzlichen Bedingungen unterhalten. Nur während der so genannten Gerichtsverhandlungen, die Russland selektiv gegen die Gefangenen führt, ist es möglich, den Zustand von Opfern zu beurteilen. „Wir rufen die internationale Gemeinschaft und Vertreter der Botschaften aller Länder in Russland auf, die Gerichtsprozesse zu überwachen und zu besuchen, den Gesundheitszustand der ukrainischen Zivilisten und Kriegsgefangenen sowie ihren Zugang zur Rechtshilfe zu kontrollieren“, so die Menschenrechtsaktivistin.
Deutsche Abgeordnete erregt Aufmerksamkeit der westlichen Gesellschaft
Die Kampagne wurde von Rebecca Harms, Vizepräsidentin des Europäischen Zentrums für Presse- und Medienfreiheit, unterstützt. „Der Aggressor hält sich an keine internationalen Regeln, die Genfer Abkommen werden von Russland nicht als ein verbindliches Dokument wahrgenommen“, sagte Harms. „Wir müssen jedoch die Zivilisten zurückholen. Und das geht am besten mit Hilfe der Öffentlichkeit oder auf diplomatischen Weg. Das müssen wir jetzt machen, weil die ukrainische Gesellschaft tief traumatisiert ist und Hilfe braucht.“.
Die ukrainische Staatsanwaltschaft teilt erschreckende Tatsachen mit. In Jahidne (Gebiet Tschernihiw) wurden 368 Kinder und Erwachsene fast einen Monat lang als menschlicher Schutzschild in einem schmalen Keller ohne Heizung und Kanalisation festgehalten. Die jüngste Geisel war damals kaum 1,5 Monate alt, die älteste war 93 Jahre alt. Zehn ältere Menschen sind ums Leben gekommen.
Das Büro des ukrainischen Generalstaatsanwalts hat 156 russische Soldaten, die an der illegalen Festnahme und Misshandlung von Zivilisten beteiligt waren, unter Verdacht gestellt. 35 Besatzer wurden wegen Folter und Missbrauch verurteilt.
„Ein uninteressantes Thema“ – wir müssen nach kreativen Wegen suchen
Maryna Howoruchina, Expertin für strategische Kommunikation der gesellschaftlichen Organisation Common Sense Communications, erzählte, sie habe einen bekannten Journalisten gebeten, Kontakte zu ausländischen Medien mitzuteilen, die sich für das Thema ukrainischer Gefangenen interessieren könnten. Die Antwort lautete, dass die Medien überhaupt nicht daran interessiert seien. Schließlich geht es nicht um Helden, nicht um irgendeine herzzerreißende Geschichte, sondern um ganz normale Menschen. Außerdem steht der russisch-ukrainische Krieg nicht mehr auf den Titelseiten der Weltzeitungen – er wurde vom Konflikt im Nahen Osten zur Seite gerückt.
Maryna ist jedoch überzeugt, dass es notwendig ist, die Sache weiter allgemein bekanntzumachen und nach Wegen zu suchen, um den Stimmen aller Opfer von Russen in der Ukraine Gehör zu verschaffen. „Einer der Gefangenen schrieb uns, dass er weniger geschlagen wurde, nachdem Artikel über ihn erschienen sind. Also wenn die Sache sogar ein wenig bekannt wird, kann es helfen. Wir müssen mit den russischen diplomatischen Vertretungen Kontakt aufnehmen, Briefe schreiben und Anfragen stellen. Es gibt niemanden, der sich für diese Menschen einsetzt.“
Anastasija Maruschewska, Vertreterin von PR Army, ist mit Maryna einverstanden. Ihrer Meinung nach ist eine solch komplexe Kampagne eine echte Herausforderung für die Zivilgesellschaft und Rechtsorganisationen: „An die zivilen Gefangenen muss man erinnern, ihre Geschichten müssen gehört werden.“
Um die Gesellschaft auf das Problem aufmerksam zu machen, hat die gesellschaftliche Organisation Common Sense Communications gemeinsam mit Bürgerrechtlern und Aktivisten aus der Ukraine und Deutschland eine Informationskampagne unter dem Motto #StimmeDerGefangenenUkrainer gestartet. Auf der Website der Kampagne unter https://campaigns.commonsense.zone/ sind Geschichten von gefangenen Ukrainern, die dringend eine medizinische Hilfe brauchen, gesammelt; hier kann man auch einen Brief an die russische Botschaft schreiben, um die Gefangenen zu unterstützen. Wenn diese Menschen nicht mehr unsichtbar sind und die internationale Gemeinschaft sich für sie einsetzt, steigen die Aussichten auf ihre Rettung.
Lest mehr über die Kampagne – wie könnt ihr den zivilen Geiseln des Kremls helfen.
Text & Fotos: Natalja Yakymovych