04/05/2023

Kommen zwei Syrer ans Wattenmeer…

Amal on Tour in Niedersachsen: Das ist eine Reise in eine Gegend, in der alles schon immer so ist, wie es seit Menschengedenken war (oder so ähnlich). Man sagt Moin bis Mitternacht, zählt die Kühe und wartet auf die Flut. Schaut man genauer hin, dann löst sich dies Klischee schnell auf – in Shisha-Rauch zum Beispiel: Unsere Reise führt durch eine Gesellschaft im Umbruch. Niedersachsen gehört zu den Bundesländern, die besonders viele Geflüchtete aufgenommen und im ländlichen Raum untergebracht hat. Das merkt man.

Zum Beispiel in Peine. Dort besuchten wir das Café INCA. Dort treffen sich seit 2015 bis heute jeden Freitag (wirklich jeden Freitag, außer vielleicht Karfreitag und Weihnachten). Geflüchtete, Ehrenamtliche und all die, die neugierig sind, neue Leute kennenzulernen, bei Kaffee und Kuchen.

Landleben Pro und Contra

Ein guter Ort, um Antworten auf unsere Recherchefrage zu finden: Was spricht dafür, als Geflüchteter im ländlichen Raum zu leben? Welches sind die Vorteile, was spricht dagegen? Wir greifen die Forderung auf, die immer öfter aus der Politik geäußert wird, die Metropolen zu entlasten. Wohnungs-, Job- und Kitaplatzsuche: All das sei auf dem Land viel einfacher. “Ja, und man hat viel schneller das Gefühl, dazuzugehören”, sagt einer unsere Gesprächspartner, ein Zahnarzt aus dem Sudan, der vor 18 Monaten in den Landkreis kam. Er wohnt außerhalb von Peine in einem 1500-Seelen-Dorf. Da er kein Auto hat und es mit den Bussen hier so eine Sache ist, fährt er jeden Tag sechs Kilometer zum Sprachkurs hin und sechs Kilometer wieder zurück. “In meinem Dorf kennen mich alle und ich kenne sie auch. Das gefällt mir. Meine Freunde, die in Berlin wohnen, sind fast die ganze Zeit nur mit anderen Sudanesen zusammen”.  Auch Amira die aus dem Irak geflohen ist, lebt gerne hier. “Wir Jeziden kommen ja aus einem sehr ländlichen Gebiet in Kurdistan und vor dem Angriff des IS waren wir nie irgendwo außerhalb unserer Dörfer. Da passt es gut”, sagt sie. Zugleich genieße sie es, dass sie sich in Deutschland frei bewegen kann. “Ich war schon in Hannover und in Bremen, habe viel gesehen und viele Pläne”. Sie findet es schön, dass die Menschen in Peine und Umgebung offen sind und dass sie im Café INCA so gut Anschluss findet. “Es ist wichtig, dass es solche Orte gibt, an denen man sich treffen kann”, sagt sie und hilft mit, dass alle einen Kaffee und ein Stück Kuchen bekommen. Auch in Peine und in den kleinen  Dörfern drum herum ist nicht mehr zu übersehen: Deutschland ist eine Einwanderungsgesellschaft. Es ist ganz normal, dass Menschen verschiedenster Herkunft im ländlichen Niedersachsen zu Hause sind. Im Großen und Ganzen, so das Fazit, klappe es auch ganz gut mit dem Zusammenleben.

Wie in Jarmuk!

Salzgitter ist schon einen Schritt weiter.  “Ich komme mir hier vor wie in Jarmuk in Damaskus”, sagt eine unserer Gesprächspartnerinnen dort. Die Palästinenserin lebt schon lange in Salzgitter und hat beobachtet, wie die Stadt immer internationaler geworden ist. In der Kleingartensiedlung flattert die palästinensische Fahne neben der von Niedersachsen. Auf der Straße grüßt man sich mit Namen: Allerdings sind die meisten Passanten, die an diesem Tag unterwegs sind, Syrer:innen wie sie selbst: “Ahlan, Umm Mohammed – Wie geht`s Dir?” Aus ihrer Sicht ist es zwar schön, sich wie zu Hause zu fühlen. Gleichzeitig sieht sie aber die Probleme: An allen Ecken und Enden zeigt sich, wie bröckelig der Kitt ist, der die Gesellschaft zusammenhält: Jugendliche nerven mit radikalen Sprüchen und aus manchen Kneipen, Shisha-Bars und Moscheen quillt blanker Hass auf alle, die anders sind.

Sonderfall Bremerhaven

Unsere Reise führt auch nach Bremerhaven. Dabei liegt die Seestadt bekanntlich nicht in Niedersachsen und ist stolz darauf. Amal on Tour ist jedoch ein Projekt in Zusammenarbeit mit der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers und zu dieser gehört auch Bremerhaven. Wie schön, denn die Stadt am Meer hat gleich zwei Besonderheiten zu bieten. Im Deutschen Auswandererhaus tauchte das Amal-Team in die Welt der mehr als sieben Millionen Auswanderer:innen ein, die in den vergangenen Jahrhunderten von Bremerhaven aus in die Neue Welt aufbrachen. Manche wegen politischer und religiöser Verfolgung, andere als Armutsflüchtlinge. Unter den Menschen waren auch viele Osteuropäer:innen. Es gab also reichlich Anknüpfungspunkte und Parallelen zu unseren Geschichten und denen unserer Leser:innen. Das Foto Zeigt Team Amal vor dem Besuch des Museums.

Kirche der Konvertierten

Mindestens ebenso viel haben wir diskutiert, nachdem wir das MIttwochscafé der Kreuzkirche von Bremerhaven besuchten. Die Gemeinde hat sich voll auf die sich verändernde Gesellschaft eingestellt: Hierher kommen vor allem zum Christentum konvertierte Iraner:innen, Afghan:innen und Araber:innen. Die Gottesdienste werden in einer Form gefeiert, die den neuen Christ:innen gerecht wird: Die Predigt gibt es mit Untertiteln zum Mitlesen in verschiedenen Sprachen, die wichtigsten Texte sind in Arabisch, Farsi und vielen anderen Sprachen griffbereit. Es gibt mehr interaktive Elemente im Gottesdienst und auch die Botschaft hat sich verschoben: Viele der neuen Gemeindemitglieder interessieren sich für intensives Bibelstudium und die Beschäftigung mit dem Leben Jesu. Angesichts von Mitgliederschwund in der evangelischen Kirche könnte dies ein Modell für die Zukunft sein. Zumindest bietet das Beispiel reichlich Stoff für Diskussionen. War doch Mission unter evangelischen Christ:innen bislang eher ein Tabu. Viele unserer Fragen konnten wir dann auch direkt platzieren. Landesbischof Rolf Meister im Interview mit Tamriko Shoshyashvili und Khalid Al Aboud.

Machen zwei Syrer Camping…im April

Denkt man an Niedersachsen und Wattenmeer, denkt man natürlich – so will es das Klischee – an Ostfriesenwitze. Dazu lassen sich hier zwei Feststellungen treffen: Auf unserer Reise wird viel gelacht und es ist nicht auszuschließen, dass die Menschen an der niedersächsischen Waterkant in Zukunft neue Witze erzählen, die so beginnen: “Kommen zwei Syrer mit dem Campingbus ans Wattenmeer….”. Gemeint sind damit Khalid Al Aboud und Aboud Omaren, die das Erlebnis Campingbus voll auskosteten. Ob die Menschen, die ihnen auf den Campingplätzen begegneten, sie so erstaunt anschauten, weil sie fremdenfeindlich eingestellt sind und oder ob es daran lag, dass es insgesamt noch ziemlich früh im Jahr war, um draußen zu schlafen, lässt sich nicht genau sagen. Klar ist: Es war ein Abenteuer, es war ziemlich kalt und sehr lustig. Hier ein Auszug aus unserem Amal on Tour Chat.

Seit Dienstag tourt ein frisches Amal-Team: Noorullah Rahmani, Nana Morozova, Amloud Alamir, Dawod Adil und Conny Gerlach sind gestern gestartet. Hier sind sie zu Besuch beim Team von CAMEO. das Kollektiv hat sich – so wie Amal – 2016 gegründet und die Aktivitäten immer weiterentwickelt. Es sind ein spannende Gesprächspartner.
Nächste Woche können wir dann hoffentlich eine vorläufige Antwort auf unsere Recherchefrage geben. Derzeit würden wir sagen: Das Leben im ländlichen Raum ist eine gute Alternative zum Leben in Berlin, Hamburg und Frankfurt, aber es gibt auch echte Nachteile.  Es steht also 1:1 unentschieden.
Bilder: Amal

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