05/10/2022

Der heiße (Kultur-) Herbst ist schon da!

Nein, wir haben sie nicht vergessen. Wir sind auch nicht plötzlich gleichgültig geworden. Deswegen haben wir als Titelbild auch das Bild von den Protesten in Hamburg ausgesucht. Ansonsten soll es aber in diesem Newsletter einmal nicht um die Demos in Solidarität mit den Protesten im Iran und auch nicht um die Empörung nach der brutalen Ermordung von Hazara-Schulmädchen in Afghanistan gehen. In dieser Woche widmen wir uns den schönen Dingen und anderen Künsten. Alle sprechen vom heißen Herbst. Wir haben ihn schon gefunden. Zumindest im arabischen und ukrainischen Teil von Deutschland ist kulturell in diesen Tagen ganz schön viel los. (Berichte zu den Protesten finden Sie hier Ein Video auf Deutsch hier).

Unsere Redakteur:innen haben sich auf die Suche nach der neuen deutschen Kulturseele gemacht und haben erstaunliche Ausstellungen, merkwürdige Kunstformen und schrille Charaktere gefunden.

Über Diktatoren und das Durchhaltevermögen von Marathoniquen

Apropos Charakter. Amloud Alamir hat sich mit einem der bekanntesten und auch umstrittensten syrischen Schriftstellern getroffen: Khalid Khalifa ist derzeit zu Besuch in Deutschland, weil gerade sein neuestes Werk „Niemand betete an ihren Gräbern“ von Larissa Bender ins Deutsche übersetzt und bei Rowohlt verlegt wurde. Amloud Alamir spaziert mit ihm am Marathonsonntag durch Berlin und spricht mit über sein Buch und darüber, was ihn bewegt. Er ist einer, der in Syrien blieb als fast alle anderen Intellektuellen das Land verließen. Wie geht es ihm? „Ich kann verstehen, dass die Leute gehen mussten und mit der Verfolgung durch die Regierung ist nicht zu scherzen“, sagt er. All jene, die reisen können, fordert er jedoch auf, zumindest zu Besuch nach Syrien zu kommen. „Es ist unser Land. Nicht das des Regimes!“, sagt er und fügt dann noch einen besonders schönen Satz hinzu: „Ich fühle mich manchmal wie ein verlassener Liebhaber; Ein verlassener Liebhaber, der versagt hat“. Hier geht es zum Video mit deutschen Untertiteln.

Video von Amloud Alamir

Über Diktatoren, weggehen oder zurückbleiben und andere Survival-Tipps

Welten, nein Galaxien liegen zwischen Khalid Khalifa und Julia Solska. Das zeigt sich schon auf den ersten Blick (siehe unten). Die ukrainische Autorin hat in den ersten Tagen des Angriffskrieges auf die Ukraine ihr Land verlassen und hat begonnen über ihre Flucht und ihr neues Leben in Deutschland Tagebuch zu schreiben. Dies ist nun auf Deutsch erschienen. Sie schreibt für ein deutschen Publikum, nimmt sie mit in die Gedankenwelt der inzwischen rund eine Million Geflüchteten aus der Ukraine. Auch sie spürt – und da ähnelt sie dann doch Khalid Khalifa ein wenig – Druck, sich zu rechtfertigen: Während er erklärt, warum er in Syrien blieb, als alle gingen, hat Julia Solska – wie viele andere Ukrainerinnen – das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen: Dass sie jetzt in Deutschland lebt, wo ihr Land angegriffen wird und verteidigt werden muss. Im Interview mit Tamriko Shoshуashvili aus unserem neuen Frankfurter Team wendet sie sich an ein ukrainisches Publikum und erklärt, worauf es aus ihrer Sicht ankommt, um in Deutschland Fuß zu fassen.

Ein Sommerhaus auf dem Land

Es ist die erstaunliche Geschichte einer Familie aus der Ukraine, die ihren Sommer auf dem Land außerhalb von Berlin verbracht hat. Zugegeben, es ist nicht irgendeine Familie: Die Dyachenkos vereinen die angesehensten Architekten und bildenden Künstler der Ukraine in ihren Reihen und es ist auch nicht irgendein Sommerhaus, das sie bewohnt haben: Die Villa von Arno Brandhuber ist ein besonders magischer Ort, der regelmäßig für besondere Kunstaktionen und als Rückzugsort für gefährdete Kulturschaffende genutzt werden kann. Amal-Autorin Natalka Yakubovych war einen Abend zu Besuch in der spätsommerlichen Kunst-WG. „Das spannendste ist eigentlich, dass die Mitglieder der Familie nicht nur alle ihre eigene (künstlerische) Sprache sprechen. Sie benutzen auch alle unterschiedliche Materialien, um sich mit dem Spannungsfeld von Macht und Kraft auseinanderzusetzen“, schreibt sie.

Den verstorbenen Vater auf dem Arm

Die Kunstform, die uns Anas Khabir in seinem Video vorstellt, ist ebenfalls exzentrisch und wird zumeist nur für ausgewählte Betrachter:innen enthüllt. Ansonsten hat sie sehr wenig mit der exklusiven Kunstwelt der Dyachenkos und Brandhubers zu tun. Anas Khabir und unser Praktikant Ayham Mohammed haben die diesjährige Tattoo-Convention besucht und dort arabische Tattoo-Künstler:innen getroffen. Beeindruckt waren sie von den 3-D-Brustwarzen-Simulationen für Krebspatientinnen und den pharaonische inspirierten Bildern einer ägyptischen Tattoo-Meisterin.  Ganz besonders gefallen hat ihnen die Geschichte einer jungen Frau aus Polen, die sich das Bild ihres Vaters auf den Arm tätowieren ließ. „Er ist kürzlich verstorben. Ich vermisse ihn so und jetzt habe ich ihn immer bei mir“, sagt sie im Interview. Hier geht es zum Video mit deutschen Untertiteln.

Video von Anas Khabir und Ayham Mohammad

Hier hat die Woche deutlich mehr als sieben Tage

Die Arabische Kulturwoche in Hamburg hat Tradition und es gehört auch schon lange dazu, dass sie sich über den ganzen Herbst erstreckt: Konzerte, Diskussionen und Vorträge. Organisiert von Mohammad Khalifa von der Universität Hamburg wird hier das ganze Spektrum der arabischen Kultur in Szene gesetzt: Von Syrien bis Marokko und von Klassikkonzert bis Mitmachtheater.  Amal, Hamburg ist natürlich auch dabei. Wir berichten nicht nur, sondern veranstalten parallel zur Kulturwoche einen Schreibwettbewerb. Spannende, mitreißende und schöne Geschichten gegen Rassismus und Diskriminierung werden gesucht und mit 100-Euro-Gutscheinden prämiert. Die Gewinner:innen werden bei einer Veranstaltung im Dezember auf die Bühne gebeten und können dort ihre Texte vorstellen. Hier geht es zur Ausschreibung:

Bilder von Eman Helal, Anas Khabir, Amloud Alamir, Noah Ibrahim, Natalka Yakubovych, Tamriko Shoshуashvili

Amal, Berlin! berichtet auf Arabisch, Farsi/Dari und Ukrainisch über alles, was in Berlin wichtig ist. Gerne übersetzen wir einzelne Artikel auch ins Deutsche und stellen sie Redaktionen gegen Honorar zur Verfügung.
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