Entwurzelt wird man unsichtbar

Ukrainische Journalist:innen kamen im Frühjahr 2022 nach dem Beginn der russischen Invasion in der Ukraine in Berlin an. Bei Amal Berlin wurden sie von Kollegen aus Syrien, Iran und Afghanistan in die Redaktion aufgenommen, die seit 2015 gegründet wurde. Nana Morozova, Leitende Redakteurin und Koordinatorin von Amal Berlin Ukraine, spricht über die Erfahrung der Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Redaktionen und darüber, wie die Arbeit die Würde wiederherstellt.

(Dieser Beitrag ist eine Antwort auf die Artikel, die Maryam Mardani und  Khalid Alaboud anlässlich des ersten Jahrestages der Gründung von Amal auf Ukrainisch veröffentlicht haben. Hier geht es zu den Artikeln auf Arabisch und Dari/Farsi.)

 

„Endlich bin ich unter meinesgleichen“

 „Meine Woche war eine gute Woche…“ Das wöchentliche Treffen der 15 Journalist:innen im Berliner Büro von Amal beginnt mit einer Check-In-Runde. Was ist passiert? Woran haben die Kolleg:innen gearbeitet? Was ist wichtig? . In einem großen Raum mit einer dunkelblauen Wand sprechen sie alle über Neuigkeiten aus ihrem Leben, manchmal sehr persönliche Dinge, wenn man das so nennen kann. Da geht es um russische Raketen, die ukrainische Städte und Dörfer bombardieren, Frauenprozesse und die Ermordung von Aktivisten im Iran, Bürgerrechtsverletzungen in Afghanistan, der Tod von Freunden und Familienmitgliedern in so unterschiedlichen und weit entfernten Ländern….

Als ich vor genau einem Jahr bei Amal anfing, befand mich in der Tiefe der Selbstzweifel. Ich war verwirrt, nachdem ich mit meiner Tochter aus Kiew geflohen war, wo mein Mann geblieben war, um im Zivilschutz der Hauptstadt zu dienen. Aber nach einer langen Suche nach einer Wohnung und einem Job, nach Monaten der Einsamkeit und des Überlebenskampfes in einer fremden Umgebung ohne Deutschkenntnisse fand ich mich schließlich in einer warmen Umarmung wieder. Ich war von Fremden umgeben, die genau wussten, wie ich mich fühlte. Ich konnte es nicht glauben! Ich befand mich auf der gleichen Reise wie sie vor zehn Jahren.

„Wir verstehen Sie sehr gut“ – diese Worte reichten aus, um mich aufatmen zu lassen. Endlich war ich unter meinesgleichen.

 

Unterschiedliche Ansichten, gleiches Ziel

Manchmal stimmt unsere Einschätzung der Nachrichtenlage nicht überein und wir haben unterschiedliche Ansichten darüber, was unsere Leser:innen interessiert und was nicht. Die arabische, afghanische und iranische Communities, interessieren sich mehr für das politische Leben in Deutschland, Staatsbürgerschafts- oder Abschiebungsgesetze und Polizeiberichte über Straftaten. Die ukrainische Leserschaft möchte Nachrichten über die Unterstützung des deutschen Staates für die Ukraine, die Aktivistenbewegung in Berlin, das künstlerische Leben, die Situation auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt und die Möglichkeiten der persönlichen Entwicklung. Raubüberfälle und Unfälle wecken natürlich Sympathie. Aber sie sind nicht vergleichbar mit den Emotionen nach Nachrichten über Angriffe von Marschflugkörpern und Kamikaze-Drohnen oder über russische Truppen, die in den besetzten Gebieten Massengräber für Hunderte von Zivilisten ausheben, Frauen vergewaltigen und Kinder entführen. Die Verbundenheit mit dem beschossenen Heimatland ist zu stark. Wir sind immer noch dort. Wir sind in Deutschland noch nicht ganz angekommen.

Aber es gibt Projekte, die unsere Redaktionen vereinen. Im Frühjahr 2023 zum Beispiel gingen 10 Journalisten für zwei Wochen auf eine Recherchereise nach Nordniedersachsen. Ziel unseres gemeinsamen Projekts „Amal on Tour“ war es, das Leben von Migranten aus verschiedenen Ländern in Hannover und den umliegenden kleinen Dörfern und Städten zu dokumentieren. Wir besuchten arabische Restaurants und Bäckereien, Gemeindezentren, die ukrainische Flüchtlinge unterstützen, und trafen uns mit Aktivisten und Kirchen, die Flüchtlingen aus Syrien, der Türkei und Afghanistan helfen. Wir haben Artikel über ihre Arbeit und ihre Träume auf unserer Website und in den sozialen Medien veröffentlicht. In verschiedenen Sprachen sprechen sie über dieselbe Sache – die Fähigkeit, unter schwierigsten Bedingungen zu überleben.

 

Salz und Freundschaft

Ich umarme Maraam ganz fest und spüre, dass ihre Umarmung ebenso warm ist. Es war ihr Geburtstag, und ich habe ihr ein Kräutersalz geschenkt, das ich in der Ukraine hergestellt habe. Ich hatte es von meiner letzten Reise nach Kiew im Frühsommer mitgebracht. Ich kann jederzeit nach Hause in den Urlaub fahren. Ja, es gibt einen harten Kampf um das Überleben des Landes. Aber trotz des Risikos fahre ich immer noch alle zwei oder drei Monate mit dem Bus von Berlin nach Kiew. Ich vermisse meinen Mann und unser gemütliches Zuhause sehr. Auch wenn die Fenster mit Folie beklebt sind, damit sie beim nächsten Beschuss nicht zerbrechen.

Maryam kann nicht nach Hause zurückkehren. Ahmad kann es auch nicht. Und Noorullah und Dawod auch nicht. Syrien und Afghanistan werden von brutalen Regimen regiert, und die Welt kämpft nicht so hart für die Heimat meiner Kolleg:innen wie für die Ukraine. Wir werden mit Waffen beliefert und erhalten Kredite. Die Ukraine verschwindet nicht von den Titelseiten der Zeitungen. „Du hast Glück“, sagt mein Freund Khalid, „ich bin seit neun Jahren nicht mehr zu Hause gewesen. Ich würde mein Land gerne wenigstens von der anderen Seite der Grenze sehen…“ Er vermisst sein Haus mit den hohen Decken und den großen Fenstern, die eine herrliche Aussicht bieten. Als Kind sah er jeden Abend, wie die Sonne hinter dem Horizont verschwand. Jeden Abend…

Ich teile sein Heimweh. Aber es gibt einen wichtigen Unterschied: Ich weiß sehr genau, dass ich nach Kiew zurückkehren werde.

 

Arbeiten und gesehen werden / Arbeit, die rettet

Aber ob wir nun dauerhaft oder vorübergehend hier sind, die Arbeit ist für die Journalist:innen von Amal, Berlin! zu einem Rettungsanker geworden. Sie ist nicht nur eine Ablenkung von traurigen Gedanken. Es ist nicht nur ein Einkommen, das uns finanziell unabhängig vom Jobcenter macht. Wir spüren, dass wir die Welt zum Besseren verändern. Wir informieren diejenigen, die die Sprache noch nicht gelernt oder neue Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung gefunden haben, über die Nachrichten aus Berlin und Deutschland. Diejenigen, die nicht wissen, wie sie sich in der neuen Umgebung zurechtfinden, wie sie sich ehrenamtlich engagieren können, wie sie eine Wohnung oder Gleichgesinnte finden, wie sie das eher verwirrende politische Leben verstehen können.

Maryam und ich haben wiederholt darüber gesprochen, wie wichtig es ist, Flüchtlingen das Wahlrecht zu geben. Aber nicht nur die einfachen Menschen brauchen es, sondern auch wir Journalist:innen brauchen es. Wenn man von seinen Wurzeln abgeschnitten ist, wird man unsichtbar, transparent für andere. Deshalb arbeiten wir jeden Tag nicht nur daran, Artikel, Berichte, Interviews und Analysen zu schreiben. Die Journalisten von Amal, Berlin! nehmen auch an verschiedenen Veranstaltungen teil, um dem deutschen Publikum von sich und ihren Communities zu erzählen.

Die ersten –“Tage des Exils 2023” finden vom 8. September bis 9. Oktober in Berlin statt. Amal, Berlin! ist offizieller Mediensponsor dieser Veranstaltung. Gemeinsam mit unseren Kollegen vom Tagesspiegel werden wir am 18. September Projekte von Journalisten im Exil vorstellen und über unsere unterschiedlichen, aber verbindenden Erfahrungen in der Zusammenarbeit sprechen. Kommen Sie und diskutieren Sie mit. Wir werden sichtbar sein. Sie werden uns sehen.